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Fachtag 2022: Wie geht zeitgemässe Männlichkeit?

Unter dem Titel «Detox Masculinity – und dann…?» gaben fünf Fachpersonen ihre ganz persönliche Antwort auf die Frage, wie ein neues Leitbild zeitgemässer Männlichkeit(en) jenseits von Dominanz und Leistungsdruck aussehen könnte. Die unterschiedlichen Ansätze gaben Anlass zu einer intensiven Diskussion.

Ein Philosoph, eine Sexologin, ein Pionier der emanzipatorischen Männerbewegung, ein aktivistischer Männerforscher und der Geschäftsführer einer Fachstelle für Jungenarbeit. Sie alle hatten im Vorfeld des Fachtags von männer.ch dieselbe offene Frage erhalten: «Detox Masculinity – und dann…?» Was könnte bleiben vom oder neu entstehen als Konzept der Männlichkeit, wenn althergebrachte und schädliche Männlichkeitsnormen überwunden wären? Und braucht moderne Männlichkeit überhaupt Leitbilder? Die fünf Referate machten ein sehr breites Spektrum auf.

Im Wandel oder noch im alten Film

Christoph May, Co-Founder des Instituts für kritische Männerforschung, liess die Frage nach einem neuen Bild von Männlichkeit(en) bewusst unbeantwortet. Für ihn ist klar: Männliche Dominanz prägt unsere Gesellschaft so stark, dass die Frage nach dem «und dann… ?» zu früh kommt. Solange nicht nur in Führungspositionen, politischen Ämtern und universitären Lehrstühlen, sondern auch in Bücherregalen, Kinos und Playlists vorwiegend Männer zu finden sind, gebe es keinen Raum für weibliche, non-binäre oder diverse Perspektiven. Sein Credo lautet daher: «Break up your boys club». Für Männer empfiehlt er in erster Linie zuzuhören, um über den Blick von Aussen zu erkennen: Die Welt von Männern für Männer gemacht. Es ist wichtig, Privilegien zu erkennen und eigene Gewohnheiten zu durchbrechen. Seine These: Reine Männerrunden können keine Perspektiven hervorbringen, die die Grenzen der patriarchalen Gesellschaft sprengen. Ein schwer verdaulicher Brocken aus Sicht von männer.ch, einem Verein der ja genau diesen Anspruch an sich selber hat.

Gross ist der Kontrast zum folgenden Vortrag von Reinhard Winter. Der Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts Tübingen und Autor zahlreicher wegweisender Bücher zu männlicher Sozialisation steht dem Begriff «toxische Männlichkeit» kritisch gegenüber. Dieser richte den Blick auf das Negative und bündle die Aufmerksamkeit dort. Winter will stattdessen das «positiv Männliche» in den Fokus nehmen und dort zukunftsfähige Eigenschaften fördern. Eigenschaften, die vielleicht nicht für ein neues starres Leitbild taugen, aber doch als Orientierungspunkte für zeitgemässe Männlichkeit(en). Für ihn zeigen Befragungen zu Männlichkeitsvorstellungen und der breite Diskurs über toxische Männlichkeit, dass der Wandel bereits begonnen hat. Winter sagt: Hegemoniale Männlichkeit gibt es, aber sie ist nicht mehr in der bestimmenden Position. Sie wird zunehmend abgelöst von anderen Vorstellungen wie der «Kontroll-Männlichkeit» (vernünftig, anständig, reguliert, woke), «Sorge-Männlichkeit» (fürsorglich, zugewandt, edel, altruistisch) oder einer «Individualisierten Männlichkeit (authentisch, selbstbezogen «anders»). Im Bereich des Männlichen entsteht demnach kein neues Leitbild, aber eine grössere Vielfalt von Konzepten.

Mitten im Wandel oder noch im alten Film? May und Winter sind da schon mal grundsätzlich anderer Meinung.

Ein Plädoyer für die Biologie

In einem beherzt vorgetragenen Plädoyer überrascht Sexologin Caroline Fux mit ihrem Appell, dem Körper mehr Beachtung zu schenken. Sie spricht über die Wechselwirkung von biologischem Körper und Geist, vom Einfluss des Hormonsystems und der Komplementarität von Penis und Vagina. Trotzdem schafft sie es, die Klippen des Biologismus weitgehend zu umschiffen und überzeugende Argumente zu liefern für einen stärkeren Fokus auf den Körper. Erfolgreich gelebte Männlichkeit versteht sie als eine Balance zwischen Kognition, Biologie, Ich-Erleben und Beziehung. So kommt sie zum Idealbild einer «Präsenz in Bewegung» – Männlichkeit als dynamischer Prozess, in dem der Körper eine zentrale Rolle einnimmt.

Fux vergisst nicht zu erwähnen, dass sie dieses Bild für die individuelle Beratung entwickelt hat und sie damit keine binär-geschlechtliche Gesellschaftsordnung zementieren, sondern Einzelpersonen in ihrer individuellen Entwicklung unterstützen und in ihrem Erleben als Mann ernst nehmen will.

Das Leben vom Ende her denken

Eine Atempause gibt es im Anschluss nicht. Dafür reichlich Hirnfutter. Philosoph Björn Vedder weist auf eine Leerstelle der heutigen Gesellschaft hin. In der männlich geprägten Kultur, die Leistung, Erfolg und Erwerbsorientierung im Vordergrund stellt, haben Erfahrungen von Verlust und Verzicht keinen Platz. Hier plädiert er dafür, das Leben vermehrt vom Ende her zu denken. Verluste und Scheitern akzeptieren lernen. Angesichts der begrenzten Zeit auf der Welt bewusst entscheiden, worauf man verzichten will – Das könnten für Vedder neue männliche Tugenden sein.
«Wer Verlust und Verzicht als Teil des eigenen Lebens akzeptiert und integriert, wer lernt mit Schmerz umzugehen, der wird auch emphatischer und schafft es im besten Fall, stärker in Verbindung zu kommen mit anderen und den Fokus nicht nur auf sich selbst zu richten.» so sieht er ein mögliches zukünftiges Selbstverständnis von Männern.

Die Zweigeschlechtlichkeit hat ausgedient

Peter Bienwald, der letzte Referent des Fachtags, ist Leiter der Landesfachstelle Jungenarbeit Sachsen. Dort entwickelt er Fortbildungen im Bereich geschlechterreflektierender pädagogischer Arbeit für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. Bienwald ist überzeugt, dass wir uns von der Vorstellung der Zweigeschlechtlichkeit verabschieden müssen. Die Aufteilung in männlich und weiblich tauge schlichtweg nicht mehr als strukturierendes Prinzip der Gesellschaft. Er stellt dabei vor allem Fragen: «Warum muss eigenes Verhalten männlich oder weiblich konnotiert sein?», «Viele Menschen finden sich nicht in der Polarität männlich/weiblich: Ist sie dann nicht schlicht zu einfältig?», «Verstellt Männlichkeit* als homogenisierendes Konzept den Blick auf weitere Sektionen, wie race oder class?»
So kommt Bienwald nicht zu einem Vorschlag, wie eine zukunftsfähige Männlichkeit aussehen soll, sondern zum Schluss: « Die Vielfalt von Geschlecht wird sich nicht binär fassen lassen. Insofern sind Männlichkeit* und Weiblichkeit* überkommene Konzepte/Homogenisierungsstrategien.»

Produktive Reibung

Die verschiedenen Inputs und die anschliessende Diskussion zeigen: Eindeutige Antworten auf die Frage nach dem «und dann…?» gibt es nicht, doch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Männlichkeit ist auch weiterhin sinnvoll und wichtig. Sie macht nämlich sichtbar, dass Männlichkeit nicht einfach ist, sondern entsteht, gemacht wird, verhandelt und erweitert werden kann – ja muss.

Ich verlasse die Veranstaltung nicht mit einem klaren Bild einer «neuen Männlichkeit», aber dafür mit mehr als einem Gedanken, den ich bislang noch nicht gedacht habe. Ich habe bei fast allen Beiträgen auch Widerstand gespürt, war mal mit dieser These oder jenem Argument nicht einverstanden. Und gerade das macht den Fachtag 2022 für mich zu einer gelungenen Veranstaltung. Dort wo die Reibung entsteht, genau hinschauen – Das halte ich für einen guten Weg der Auseinandersetzung mit Männlichkeit.

Thomas Neumeyer ist seit Februar 2022 Leiter Betrieb und Kommunikation bei männer.ch

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