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«Welches Leben darf gelebt werden und welches nicht?»

Die Geschlechterforschung steht häufig in der Kritik. Im Interview erklären Anika Thym und Matthias Luterbach vom Zentrum Gender Studies der Uni Basel, warum ihre Disziplin so heftig angegangen wird und warum es für einen gelingenden Dialog manchmal nötig ist, festzustellen, dass man sich grundlegend uneinig ist.

Die Geschlechterforschung wird zurzeit von vielen Seiten angegriffen und als «Genderideologie» bezeichnet. Wie erklären Sie sich das?

Anika Thym: Die Geschlechterforschung zeigt auf, wo Ungleichheit zwischen den Geschlechtern besteht. Und sie zeigt, wo Personen wegen ihrem Geschlecht, ihrer Geschlechtsidentität oder Sexualität diskriminiert werden: Im Beruf, im Alltag, in ihrer sexuellen Selbstbestimmung. Damit zeigt sie auch, inwiefern der Verfassungsauftrag – nämlich rechtliche und auch tatsächliche Gleichstellung – noch nicht erreicht ist. Wer sich gewohnt ist, dass weisse, heterosexuelle Männer das Sagen haben, und daran auch festhalten möchte, dem passt das natürlich nicht. Diese Männer – und manchmal auch Frauen – wehren sich, indem sie der Geschlechterforschung die Wissenschaftlichkeit absprechen. Sie stellen die Forschung in Frage, die ihre eigene Weltsicht in Frage stellt. 

Anika Thym

Doktorandin im Fachbereich Geschlechterforschung der Universität Basel mit Schwerpunkt Gesellschafts- und Geschlechtertheorie.

Matthias Luterbach

Doktorand und Assistent im Fachbereich Geschlechterforschung der Universität Basel. Ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fachstelle von männer.ch

Was macht die Ansätze der Geschlechterforschung denn so bedrohlich?

Matthias Luterbach: Die Geschlechterforschung macht deutlich, dass Geschlechterverhältnisse, die Zweigeschlechtlichkeit und die Vorstellung einer natürlichen Geschlechtsidentität veränder- und gestaltbar sind. Für alle, die an eine unveränderbare natürliche oder göttliche Ordnung der Geschlechter glauben, sind diese Erkenntnisse bedrohlich. Denn rigide Geschlechterverhältnisse sind ein zentraler Teil der bisherigen Lebensweise. Diese infrage zu stellen nimmt also etwas Zentrales weg – nämlich Gewissheit und Selbstverständlichkeit. Es ist wichtig zu erkennen, dass schon das Fragen alleine eine grosse Veränderung bedeutet. Denn zur bisherigen Art und Weise Geschlecht zu leben, gehörte auch, dass gewisse Fragen nicht offen gestellt werden durften. Zum Beispiel: Bin ich heterosexuell? Will ich ein Mann sein? Viele bemühen sich bis heute so zu leben, dass sie sich solchen Fragen nie stellen müssen. Wenn nun die Geschlechterforschung, Gleichstellungs- und Diversitystellen – aus gutem Grund – Offenheit zu diesen Fragen einfordern und auf allen Ebenen für diese sensibilisieren, bedroht dies die bisherige Art und Weise zu leben. 

Thym: Und es bleibt ja nicht bei den Fragen. Eine bestimmte Männlichkeit wird ja auch oft selber zum Problem gemacht, mit Begriffen wie «alte weisse Männer», oder «toxische Männlichkeit». Wenn das eigene Gefühl von Stolz über die eigene Härte und den eigenen Erfolg auf einmal kritisiert und sogar lächerlich gemacht wird, geht das ans Eingemachte. Ein ganzes Lebenskonzept wird infrage gestellt.

Sie plädieren dafür, grundsätzliche Differenzen im Blick auf die Welt genauer zu benennen. Wie unterscheidet sich Ihre Perspektive auf Gesellschaft von derjenigen der erwähnten Kritiker?

Thym: Antigenderistische Perspektiven gehen meist davon aus, dass es im Grunde nur heterosexuelle Männer und Frauen gibt und Männer biologisch oder aufgrund der göttlichen Ordnung überlegen sind. Alles was nicht in diese Norm passt, ist Abweichung. Diese gilt je nach den zugrundeliegenden Werten als widernatürlich oder sündig.

Die Geschlechterforschung dagegen geht aufgrund der historisch und an verschiedenen Orten der Welt beobachtbaren Vielfalt geschlechtlicher und sexueller Lebensweisen davon aus, dass Geschlecht und Sexualität nicht rein biologisch oder theologisch definiert sind, sondern soziologisch: Es sind also die Menschen, die entscheiden, welche Geschlechternormen als lebbar akzeptiert werden, und welche nicht.

Und warum glauben Sie, dass Ihre Perspektive richtig ist?

Luterbach: Falsch und richtig ist ein ausgesprochen schwieriger Massstab in der Wissenschaft, weil jedes Wissen aus einer Perspektive kommt. Als Geschlechterforscher:innen wissen wir aber, dass die Art, wie Geschlecht und Sexualität gelebt wird, sich im Laufe der Geschichte verändert hat. Schaut man sich beispielsweise Bilder von Männern im Adel an, sieht man, dass ihnen ganz andere Körper- und Kleiderpraxen wichtig waren als Männern im Bürgertum. Auch das, was wir heute als natürliche Zweigeschlechtlichkeit kennen, also die Idee zweier vollkommen unterschiedlicher Geschlechter aufgrund unterschiedlicher natürlicher Veranlagungen, hat sich erst im 18. und 19. Jahrhundert durchgesetzt. Vorher gab es etwa die Vorstellung, dass es im Grunde nur ein Geschlecht gibt und Menschen sich nur graduell unterscheiden. Das alles spricht also klar gegen die These, dass es einen natürlichen und unveränderlichen Kern des Geschlechts gibt. Ausserdem ist es inzwischen auch in den Naturwissenschaften sehr klar, dass man aus biologischen Differenzen nicht einfach auf soziale und kulturelle Unterschiede schliessen kann.

Thym: Ein konkretes Beispiel aus der Gegenwart: Mit dem aufkommenden Bürgertum herrschte die Annahme vor, dass Frauen aufgrund ihres biologischen Geschlechts nicht für Politik und Wissenschaft geeignet sind. Dass heute so viele Frauen in diesen Bereichen erfolgreich sind, widerlegt das Argument empirisch, dass das biologische das soziale Geschlecht in diesem Sinn bestimmen würde.

Würden die Kritiker verstummen, wenn es Expert:innen wie Ihnen nur besser gelänge, sich verständlich zu erklären?

Luterbach: Sicher ist es wichtig, das eigene Wissen gut zu erklären und da haben wir bestimmt auch noch Luft nach oben, sage ich jetzt mal. Oft zeigen sich im Zusammenhang mit Geschlecht und Gesellschaft aber sehr grundsätzliche Differenzen in wissenschaftlichen Zugängen und politischen Haltungen. Da genügt es eben gerade nicht, sich nur verständlich zu erklären. Man muss auch Differenzen erkennen und ansprechen, wer sich auf die plausibleren Grundlagen bezieht. Dissens hat auch einen Wert. Er hilft, die eigene Position zu schärfen, sich aber auch mit der anderen Position auseinanderzusetzen. Das ist eine Chance für den Dialog.

Thym: Wenn wir Differenzen entweder kleinreden oder aber andere Meinungen grundsätzlich ablehnen, vergeben wir uns die Chance, eigene Positionen und Erkenntnisse kritisch zu hinterfragen und uns weiterzuentwickeln.

«Dissens hat einen Wert. Er hilft, die eigene Position zu schärfen, sich aber auch mit der anderen Position auseinanderzusetzen.»

Luterbach: Oft gibt es die Tendenz, immer sofort auf ein gemeinsames zu pochen und Differenzen möglichst schnell aufzulösen. Entweder soll man selbst Zugeständnisse machen und sagen, dass man es nicht so gemeint hat. Oder die anderen sollen jetzt einfach mal zuhören und dann anerkennen, dass wir im Recht sind und sie im Unrecht. Wir versuchen einen dritten Weg zu gehen; einen, der die Differenzen erstmal ernst nimmt und anerkennt. Auf Grundlage des geltenden Rechts, unserer Einsichten und unseres Wissens ergreifen wir klar Position für die Antidiskriminierung in jeder Hinsicht. Wir erkennen aber, dass dieses Wissen selbst umkämpft ist.

Sie sagen, die Geschlechterforschung sollte sich kritischen Stimmen mutiger stellen. Sich trauen zu streiten. Haben Sie Beispiele?

Thym: Nehmen wir die Frage: Werden vielfältige familiale, sexuelle und geschlechtliche Lebensweisen als gleichwertig anerkannt oder ist nur ein christlich-bürgerliches, heterosexuelles Leben in einer Welt mit zwei Geschlechtern legitim? Aus einer Gleichstellungsperspektive setzen wir uns hier ganz klar für die nicht-hierarchisierende Anerkennung vielfältiger geschlechtlicher und sexueller Lebensweisen ein. Die Geschlechterforschung unterstützt auch eine Erziehung, die eine grössere Freiheit gewährt, wie sich Kinder (geschlechtlich und sexuell) entwickeln dürfen. Damit eröffnet sie ein breiteres Spektrum an möglichen Lebensweisen, als das bislang der Fall war.

Demgegenüber steht die Haltung, dass Gleichberechtigung nur unter Gleichen gilt. In einer Welt, in der sich Menschen nur als gleichberechtigt anerkennen können, wenn sie sich als Gleiche verstehen, werden alle, die anders sind, diskriminiert. Es geht um die Frage: Welches Leben darf gelebt werden und welches nicht. Hier gibt es einen gesellschaftlichen Konflikt. Ein weiterer grundlegend umkämpfter Bereich, in der aktuellen Debatte ist das Demokratieverständnis.

Inwiefern?

Thym: Unterschiedliche Akteur:innen verstehen unter dem Begriff Demokratie etwas anderes. Rechtspopulisten verstehen unter Demokratie immer öfter: Die Mehrheit entscheidet, die Minderheit hat sich zu fügen. Und wie zum Beispiel die Formel «Wir sind das Volk» gut illustriert, zählen nicht alle zur Gruppe, die mitbestimmen darf. Mit dem «Volk» sind oft vor allem weisse, heterosexuelle Menschen mit Bürgerrecht gemeint. Ein emanzipatorisches Demokratieverständnis geht dagegen von der Gewaltenteilung, der Verfassung und einer Weiterentwicklung der Menschenrechte aus und beinhaltet auch Prinzipien wie Diskriminierungs- und Minderheitenschutz.

«In einer Welt, in der sich Menschen nur als gleichberechtigt anerkennen können, wenn sie sich als Gleiche verstehen, werden alle, die anders sind, diskriminiert.»

Luterbach: Minderheiten- und Diskriminierungsschutz sind ein essenzieller Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft. Aber sie sind nicht selbstverständlich und waren schon immer umkämpft – denken wir nur an die Geschichte der Sklaverei.

Und was bedeutet es für die Verfechter der vermeintlich natürlichen Ordnung, wenn Rechte für Minderheiten, wie die Ehe für alle oder das Verbot zur Diskriminierung von Homosexuellen im Gesetz verankert werden?

Thym: Für jene, die sich Heterosexualität, Zweigeschlechtlichkeit und männliche Vorherrschaft gewohnt sind und diese nicht infrage stellen wollen, ist das ein Affront. Sie wollen für sich das Recht erkämpfen, so zu leben, wie sie es gewohnt sind – inklusive dem Recht, Dinge tun und sagen zu dürfen, die andere abwerten. Darum erleben sie Gleichstellung bezogen auf Geschlecht und Sexualität oft als autoritär.

Und was ist mit der Meinungsfreiheit? Stichwort political correctness und cancel culture?

Luterbach: Die Frage ist doch, was wichtiger ist: Sollen sich auch Angehörige von Minderheiten im öffentlichen Raum frei bewegen und ausdrücken können, ohne verbale oder physische Gewalt zu befürchten? Oder ist die uneingeschränkte Meinungsfreiheit das höhere Gut? Soll es ein Recht geben, diskriminieren zu dürfen? Wenn ein schwules Päärchen sich in der Öffentlichkeit nicht ohne Angst küssen kann, ist es meiner Meinung nach auch eine Aufgabe des Staats, hier schützend einzugreifen.

Thym: Wer Sexismus, Homophobie, Rassismus und Antisemitismus nicht als Unrecht anerkennt, sondern als die Norm ansieht, will diskriminierten Gruppen auch keine Rechte einräumen, die sie schützen. Aktuell stellt sich auf sehr grundlegende Weise die Frage, wie sich unsere Gesellschaften weiter entwickeln werden. Der demokratische Anspruch der Menschenrechte hat es erlaubt, dass viele ausgeschlossene Gruppen sich den Einschluss in die Menschenrechte erkämpfen konnten. Es war ja eben gerade nicht die Erklärung der Rechte weisser, heterosexueller, bürgerlicher Männer, sondern der Menschenrechte. Gleichzeitig werden diese Errungenschaften auch heftig infrage gestellt, z.B. wenn Staaten vermehrt aus der Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt austreten. Diese Entwicklungen sind besorgniserregend.

Sie plädieren dafür im Gespräch zu bleiben – auch mit denen, die auf Eskalation spielen. Warum?

Luterbach: Erstens gehört die Auseinandersetzung zur Demokratie dazu. Wir können den anderen nicht vorwerfen, sie seien autoritär und dann selbst den Dialog verweigern. Zweitens sind wir der Meinung, dass bessere politische Lösungen möglich sind, wenn der Dissens als solcher von beiden Seiten anerkannt wird. Und den Dissens erfährt man nur, wenn man im Gespräch bleibt, auch wenn die Positionen unvereinbar scheinen. Gleichzeitig ist aber auch klar: Wir dürfen darin nicht naiv sein. Es gibt Gegenspieler, die nicht auf Verständigung aus sind. Hier gilt es natürlich Grenzen zu setzen und staatliche Unterstützung zu fordern, wo rechtsstaatliche Prinzipien durch Drohungen oder Hate Speech überschritten werden.

Thym: Im Gespräch bleiben ist wichtig, um Polarisierungstendenzen, wie wir sie gerade erleben, entgegenzuwirken. Wir müssen uns nicht einig werden, aber wir sollten versuchen uns zu verstehen – im besten Fall mit Empathie. So haben wir eine Chance, Lösungen für die aktuellen verschiedenen Krisen zu finden. Lösungen, die im Sinne von positiver Freiheit und Gleichheit das Wohlergehen möglichst aller berücksichtigen.

Mehr zum Thema

Die Ausführungen im Interview basieren auf dem Fachartikel
«Antigenderistische Angriffe – wie entgegnen?» von Anika Thym, Andrea Maihofer und Matthias Luterbach

Download Fachartikel

Thomas Neumeyer ist seit Februar 2022 Leiter Betrieb und Kommunikation bei männer.ch

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