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Die erste Schweizer Psychiatriestation nur für Männer
Maennerinsel_Bild

Im April hat die Klinik SGM Langenthal mit der Männerinsel die erste männerspezifische Psychiatriestation der Schweiz eröffnet. Doch braucht es überhaupt auf Männer zugeschnittene Therapieangebote?

«Wenn man unterkühlt, werden die Hände kalt. Der Körper zieht das Blut aus den Extremitäten, um Wärme zu sparen und die lebenserhaltenden Prozesse am Laufen zu halten», erzählt Martin und sagt, dass er lange Zeit nicht physisch – aber psychisch unterkühlt gewesen sei. Er habe nichts mehr gespürt. Da war keine Freude, aber eben auch keine Verzweiflung. Da war nur arbeiten und funktionieren. So beschreibt Martin den Zustand, in dem er war – bevor er sich entschloss, sich in stationäre psychiatrische Behandlung zu begeben. Als Projektleiter in einer grossen Firma war er es gewohnt viel zu leisten und Verantwortung zu übernehmen. Gut sein im Job, etwas können, was andere nicht können – das hat ihn motiviert, viel zu arbeiten, um den eigenen hohen Ansprüchen gerecht zu werden. Doch während einer kirchlich organisierten Ferienwoche, musste er sich eingestehen: «So geht es nicht weiter. Die Bilanz stimmt nicht. Ich muss es angehen.»

Daniel Dettwiler von der Klinik SGM Langenthal kennt viele solche Geschichten: «Bei Männern kommt es oft vor, dass sie Warnzeichen lange ignorieren – gerade auch körperliche wie Herzrhythmusstörungen oder Schmerzen. Leider sind Männer oft auch schlechter darin, Hilfe anzunehmen, als Frauen.» Als Projektleiter hat Dettwiler mit der Männerinsel die erste männerspezifische Psychiatriestation der Schweiz aufgebaut. Dort sollen die Klienten einerseits dank Therapieangeboten, die auf Männer zugeschnitten sind und andererseits durch die Möglichkeit zum Austausch untereinander aus der Krise finden. Aber leiden Männer wirklich anders als Frauen? Stimmt das Klischee des Einzelkämpfers mit harter Schale, der keine Schwäche zeigen kann?

Männer holen sich seltener Hilfe

Statistisch belegt ist: Männer nehmen institutionelle Unterstützungsangebote generell seltener in Anspruch als Frauen. Das zieht sich durch vom einfachen Arztbesuch bis zur Psychotherapie. Hier wirken aber auch gesellschaftliche Strukturen: So ist es wohl immer noch so, dass Depressionen bei Männern ein grösseres Tabu sind als bei Frauen. Das erhöht einerseits die Hürde, um Hilfe zu suchen und beeinflusst andererseits auch die Wahrnehmung. Bei Männern zeigen sich Depressionen häufig nicht durch Antriebslosigkeit und Rückzug, sondern in externalisierendem Verhalten wie zum Beispiel Rastlosigkeit oder Aggression. Warnzeichen daher nicht unbedingt ignoriert, sondern oftmals auch schlicht nicht erkannt.

Obwohl jede Krise individuell sei, sagt Dettwiler, dass er schon typisch männliche Muster kenne, die immer wieder auftauchen würden. «Männer haben oftmals weniger soziale Beziehungen als Frauen. Wenn jemand eher ein Einzelgänger ist, besteht die Gefahr, dass er sich in einer Krise noch stärker isoliert.» Ob man die Muster, die bei Männern häufiger vorkommen, deswegen «männliche Muster» nennen will oder nicht, klar ist: Diese Dynamik ist gefährlich und kann dramatische Konsequenzen haben. So verweist Dettwiler auf die Suizidrate, die bei Männern in der Schweiz dreimal höher als bei Frauen ist. Doch wie soll das neue Angebot dazu beitragen, dass Männer sich Hilfe holen, statt still zu leiden.

 

Du bist nicht der Einzige

«Bei unserem Angebot ist die Botschaft an die Männer klar: ‘Du bist gemeint. Und es gibt neben dir noch andere Männer, die in einer ähnlichen Situation sind. Du bist nicht der Einzige’», erklärt Dettwiler weiter. Für ihn ist wichtig, dass die Männerinsel auch Begegnungen unter den Klienten ermöglichen soll. Das gemeinsame unterwegs sein im Prozess soll der Vereinzelung entgegenwirken. Die männerspezifischen Therapieformen sind Gruppenangebote, in denen Therapeutinnen und Therapeuten Wert auf Austausch legen. Man lernt voneinander. Im besten Fall sollen sogar Freundschaften entstehen. Auch die Einrichtung der Station ist darauf angelegt, eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, in der es sowohl Raum für Rückzug als auch Kontaktpunkte gibt. So erinnert die Männerinsel mehr an ein Stadthotel als an eine Krankenstation.

Daniel Dettwiler, Projektleiter Männerinsel

Auch für Martin war der Austausch in der Gruppe mit anderen Betroffenen sehr wichtig. Da aber habe er vor allem von Mitpatientinnen profitiert. In seinem Erleben waren diese offener und authentischer als die anderen Männer. Wenn Frauen zerbrechen und neu beginnen können, dann müssten Männer das doch auch schaffen. Dieser Gedanke hat ihm geholfen loszulassen und sich zu hinterfragen. Eine reine Männerstation gab es damals noch nicht. Für ihn wäre das aber auch gar kein Bedürfnis gewesen

Braucht es also gar keine reine Männerstation? Daniel Dettwiler ist der Meinung, dass es vielfältige Angebote braucht: «Es geht nicht um ein Entweder-oder. Manchen Männern fällt es im Austausch mit Frauen leichter, sich auch mal schwach zu zeigen. Andere fühlen sich in einer Männerrunde sicherer und können sich besser öffnen.» Ihm sei nicht wichtig, dass möglichst viele Männer auf die Männerinsel statt auf die gemischte Station kommen. Wichtig ist ihm nur, dass auch Männer, die Hilfe brauchen, Hilfe in Anspruch nehmen.

Wir müssen an die Rollenbilder anknüpfen, die wir überwinden wollen

Diese Haltung steht auch hinter einigen Formulierungen in der Kommunikation nach aussen. «Resilienztraining» oder «Skills-Gruppe Emotionsregulation» klingt mehr nach Sportcamp als nach Psychiatrie. Reproduziert man hier nicht männliche Stereotypen von Kraft und Leistung? «Das ist ein generelles Problem der Männerarbeit», sagt Dettwiler dazu. Angebote, die versuchen Männer im Gewohnten abzuholen, müssen oftmals an gesellschaftlich vorherrschende Bilder anknüpfen, die sie in der geschlechterreflektierten Arbeit eigentlich überwinden wollen. Dettwiler sieht das pragmatisch, denn: «Wenn Männer erstmal da sind, ist es natürlich auch unser Anspruch, sie weiterzuführen zu neuen Bildern von sich selbst.»

Tatsächlich sei es zum Beispiel so, dass alle Männer der neuen Station sich für das Angebot Sportspiele angemeldet haben, die Kunsttherapie aber zurzeit noch auf eher geringes Interesse stosse. Im Laufe des Gesprächs wird aber immer klarer, dass die Männerinsel kein reines Männerding ist – und es auch nicht sein soll: Mehr als die Hälfte der gruppentherapeutischen Angebote finden geschlechtergemischt statt, zusammen mit Frauen und Männern der allgemeinen Station. Und auch auf der Männerstation arbeiten Psychologinnen und weibliches Fachpersonal. Ist die Männerinsel also doch mehr Marketing als ein Angebot, dass auf wirklich existierende Behandlungsbedürfnisse zugeschnitten ist? Dettwiler lacht entwaffnend: «Ich glaube wirtschaftlich war das eher ein Risiko. Aber ich bin überzeugt, dass es unser Angebot braucht.» Das Ziel müsse es doch sein, dass alle, die eine stationäre Massnahme benötigen, um aus einer Krise zu finden, diesen Schritt auch wagten – egal ob Frau oder Mann. Und dafür brauche es Angebote, die so vielfältig sind, wie die Menschen selbst. «Die Männerinsel», sagt Dettwiler, «ist einfach ein weiteres Puzzlestück in der Beratungslandschaft der Zukunft.»

Für Martin war der Klinikaufenthalt auch ein Neuanfang. Er hat nicht nur den Job gewechselt, sondern auch eingeschliffene Verhaltensweisen überdacht und angepasst: «Ich habe gelernt, meine eigenen Grenzen zu spüren und auch gegenüber anderen zu kommunizieren. Es passiert auch heute noch, dass ich mich überfordere. Doch der grosse Unterschied ist – jetzt ich merke es. So kann ich mir selber sagen: OK, das war zuviel, also kehre ich um und passe den Weg an.»

Kulturmagazin ERNST

Dieser Artikel ist in der Juni-Ausgabe des ERNST Magazins erschienen. Der ERNST erscheint vierteljährlich und verbindet Gesellschafts- und Sinnfragen mit Geschlechterfragen. Im Bund «Geschlecht & Gesellschaft» diskutiert ERNST jeweils über Gleichstellungs-, Gender- und Familienpolitik. Die aktuelle Ausgabe widmet sich dem Thema «Sind unsere Helden am Ende?»
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Thomas Neumeyer ist seit Februar 2022 Leiter Betrieb und Kommunikation bei männer.ch

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