Essstörungen bei Männern: in den Köpfen Tabu, im Alltag Realität
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Essstörungen bei Männern sind häufiger als man denkt. Sie treten oftmals in Zusammenhang mit einer Idealisierung von Muskelmasse und/oder einem definierten Körper auf. Die Tabuisierung und der verbreitete Gebrauch von Dopingmitteln verschärfen das Problem. 

Es ist ein typisches Phänomen: Sehen wir eine sehr schlanke Frau, denken wir rasch, diese Person habe eine Essstörung. Läuft uns dagegen ein sehr muskulöser Mann über den Weg, kommt uns dieser Gedanke nicht so rasch in den Sinn. Dieses Beispiel zeigt, dass wir bezüglich Essstörungen immer noch viele Vorurteile haben.

Eines belegt die Forschung jedoch immer deutlicher: Männer leiden mittlerweile häufig an Essstörungen. In Amerika geht man davon aus, dass rund 30 Millionen Menschen im Verlaufe ihres Lebens eine Essstörung entwickeln, 10 Millionen davon sind Männer. Bei Magersucht und Bulimie sind Frauen doppelt bis dreifach so häufig betroffen wie Männer. Bei der «Binge Eating Disorder» – bei der Essanfälle auftreten (im Gegensatz zur Bulimie ohne selbstherbeigeführtes Erbrechen im Anschluss), ist die Verteilung weniger klar. Unter Jugendlichen nimmt die Zahl der Fälle von Jungs, die sich in Behandlung begeben, zu. Die meisten dieser Beobachtungen stammen aus dem angelsächsischen Raum, wo die Sensibilisierung zu Essstörungen bei Männern bereits weiter fortgeschritten ist, wie das folgende Beispiel aus einer niederschwelligen Weiterbildung von Hausärzten in Grossbritannien zeigt: 

Was steckt hinter Essstörungen bei Männern?

Schon Freud beschrieb eine «Anorexia Hysterica». Da die Hysterie mit den weiblichen Geschlechtsorganen in Verbindung gebracht wurde, war bereits zur Entstehungszeit der modernen Psychiatrie der Grundstein dafür gelegt, dass Essstörungen in Zukunft als weibliches Phänomen dargestellt wurden. Bis in die 1970-er Jahre war das Ausbleiben der Regelblutung nötig für die Diagnose einer Essstörung. Harrison G. Pope war einer der Ersten, der im Jahre 2000 in seinem Buch «Der Adonis Komplex» die Krise des männlichen Körpers umfassend dokumentierte. Er konnte zeigen: Männer leiden häufiger unter einer Körperbildproblematik als bisher angenommen, und zwar mit Fokus auf Muskelmasse und deren Sichtbarkeit. Heute reden wir von der Muskeldysmorphie, umgangssprachlich «Muskel- und Fitnesssucht». Alleine aus dieser Betitelung wird deutlich, dass sich diese Krankheit häufig im Fitnessstudio abspielt.

Was ist bei Männern anders?

Männer haben bei allen Arten von Essstörungen eine stärkere Tendenz, sich sportlich zu betätigen. Muskelmasse und/oder Definition sind für Männer wichtiger. Selbst ein magersüchtiger Mann will eher einen definierten statt einen flachen Bauch. Solche Unterscheidungen sind in der Befragung wichtig, denn sie werden anders beantwortet. Männer konsumieren bei Essanfällen eher Proteine und Fett statt Kohlenhydrate. Das Schamempfinden scheint zudem anders zu sein als bei Frauen und noch stärker auf problematisches Essverhalten zu wirken. 

Was ist eine Muskeldysmorphie?

Richtig ausgeführtes Krafttraining, das die Fitness und körperliche Leistungsfähigkeit verbessert, ist gesund. Verschiebt sich der Fokus aber auf ein defizitäres Körperbild, kann es belastend und auch gefährlich werden. Jemand mit einer Muskel- und Fitnesssucht sieht seinen Körper als zu wenig massig und/oder zu wenig definiert. Dies führt dazu, dass ein strenger Trainingsplan absolviert und sehr einseitig gegessen wird, um Muskeln auf- und Fett abzubauen. Wo man das Essverhalten sehr einschränkt, bricht mitunter die Lust durch: es kommt zum Essanfall. So schliesst sich der Kreis: Männer haben häufig Störungen mit Essanfällen. Doch reden Männer darüber? Nein. Im Fitnesskontext wird nicht darüber gesprochen, dass man sich mit dem Körper überhaupt nicht mehr gut fühlt. Im Gegenteil, entsprechende Social-Media Inhalte propagieren «sich ungenügend fühlen» gar als wichtige Motivation für das weitere Krafttraining. Essanfälle werden als hilfreiches Mittel verkauft, um Druck abzulassen im Essplan. Und so kommt es, dass mittlerweile tausende von Männern in Fitnessstudios still vor sich hin leiden, weil es nicht angemessen erscheint, sein psychisches Leiden anzusprechen. Und mehr noch: Aufgrund der Geschichte zu Essstörungen haben Männer Angst, über ihre Probleme zu reden, da sie fürchten, für verweiblicht gehalten zu werden. 

Fitness, Social Media und Steroide

Das Aufkommen der Fitnessindustrie mit entsprechender Werbung heute oft über Social Media hat den Männerkörper stärker in den Fokus gerückt als jemals zuvor. Der muskulöse Männerkörper wurde zum Schönheitsideal. Muskelmasse ist an Testosteron gekoppelt. Und dieses hat auch Schattenseiten: der Missbrauch von Testosteronmitteln hat massiv zugenommen. Die Beschaffung der Substanzen ist illegal, die Nebenwirkungen mitunter tödlich. Man schätzt, dass in der Schweiz 200’000 Konsumenten Dopingmittel verwenden, mehrheitlich Männer. Rund 60’000 von ihnen haben eine Abhängigkeit entwickelt, die zu behandeln gemäss Dopinggesetz strafbar wäre. Das Dopinggesetz wurde aus Erfahrungen im Spitzensport geschaffen und verbietet jegliche Unterstützung bei Dopinghandlungen, so auch eine medizinische Betreuung von Doping-Usern jeglicher Art. Das ist ein grosser Missstand, der es betroffenen Männern schwer macht, entsprechende Hilfe zu bekommen.  

Wie findet man als Betroffener einen Umgang und Wege aus/mit der Essstörung?

Ein wichtiger erster Schritt ist, sich selber einzugestehen, dass man ein Problem hat.  
Für eine erste Einschätzung hilft ein Selbsttest. Ist das Problem erkannt, gilt es
Folgendes zu versuchen: weniger Zeit im Fitnessstudio verbringen, mehr verschiedene Lebensmittel einplanen, eine Bezugsperson einweihen für regelmässigen Austausch. Reicht dies nicht aus, ist der Schritt zur Fachperson angezeigt. Oft ist es schwierig, Ärzte und Therapeuten zu finden, die das Thema ernst nehmen. In der psychologischen Behandlung unterscheiden sich die Therapiemethoden bei Männern und Frauen mit Essstörung nicht grundlegend. Es braucht aber die Offenheit und das Verständnis seitens der Fachperson, dass auch Männern unter derartigen Problemen leiden können. 
 

1. Fühlen Sie sich zu dünn obwohl andere Ihnen sagen, sie wären zu muskulös?

2. Haben Sie das Gefühl, dass Sie die Kontrolle über Ihre Trainingsgewohnheiten verloren haben?

3. Dominieren körperliche Aktivitäten zur Optimierung des körperlichen Erscheinungsbildes Ihr Leben?

4. Verbringen Sie mehr als eine Stunde pro Tag damit, zu trainieren, um Ihre Körperform zu verbessern?

5. Verbringen Sie mehr als 30 Minuten pro Tag damit, Ihre körperliche Erscheinung zu prüfen?

6. Nehmen Sie aktuell Medikamente ein (Steroide, Diätpillen, Muskel-Aufbauende Mittel) um Ihre Körperform zu optimieren?

7. Setzen Sie regelmässig die Priorität auf Ihr körperliches Training, vor Karriere oder Studium/Schule?

8. Setzen Sie regelmässig die Priorität auf Ihr körperliches Training, vor Freunden, Familie oder der Beziehung?

9. Haben Sie Ihren Trainingsplan fortgesetzt, obwohl sie verletzt oder krank waren?

10. Vermeiden Sie Situationen, in denen Ihr Körper von anderen gesehen/beurteilt werden könnte?

Wenn 5 oder mehr Fragen mit Ja beantwortet wurden, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, Symptome einer Muscle Dysmorphia entwickelt zu haben.

Nach: John F. Morgan (2008) : The Invisible Man; Routledge, East Sussex.

Wo findet man Unterstützung?

Mittlerweile haben grössere Institutionen Angebote auf Männer ausgeweitet. Adressen finden sich im Verzeichnis der AES (Arbeitsgemeinschaft Essstörungen). Der Verein PEP (Prävention Essstörungen Praxisnah) bietet im Raum Bern niederschwellige Beratung an. Das Zentrum für Suchtmedizin ARUD in Zürich hat neu eine legale Sprechstunde eingerichtet für abstinenzwillige Steroidkonsumenten. 

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