«Genau hinsehen lernen» – 2. Erfahrungsbericht aus dem Lehrgang von männer.ch

 

Fotos: Reto Kessler

Was motiviert Männer, sich drei Blockwochen lang mit geschlechterreflektierter Jungen-, Männer-  und Väterarbeit zu beschäftigen? Für Thomas Neumeyer ist es neben dem fachlichen Interesse vor allem die Auseinandersetzung mit sich selbst. Nach der ersten Woche des Lehrgangs zum Thema «Unterstützen» lag der Fokus der zweiten Woche auf dem «Begrenzen».

Genau hinsehen lernen
 

Seit ich mich im Januar 2021 für die Weiterbildung «Geschlechterreflektiert mit Jungen, Männern und Vätern arbeiten» angemeldet habe, wurde mir öfters die Frage gestellt, warum mich gerade dieses Thema interessiere. Ich habe zwei Antworten: Einerseits begegnen mir geschlechtsspezifische Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten an allen Ecken und Enden. Immernoch keine Lohngleichheit, Kinder als Karrierekiller (vor allem für Frauen), Gewalt als Mittel Männlichkeit zu demonstrieren, das Fehlen einer angemessenen Elternzeit. Die Liste ist lang. Auf der anderen Seite interessiert mich die Auseinandersetzung mit mir selbst. Ich möchte besser verstehen, warum ich so fühle und reagiere, wie ich es tue. Der Charakter, der eine Person ausmacht, ist eine Mischung aus Anlage und Prägung. Und kaum etwas prägt so sehr, wie die Frage «männlich oder weiblich?». Dass diese Unterteilung nicht nur bestimmt, ob es leichter fällt, im Stehen zu pinkeln, sondern auch einen starken Einfluss darauf hat, welchen Beruf man wählt, wen man ohne Angst attraktiv finden darf, wie man sich kleidet, geht oder spricht — das macht mich schon seit Langem argwöhnisch. Ich habe Lust, genauer hinzusehen und die Mechanismen zu verstehen, die mich zu dem machen, der ich bin. Auch um die Möglichkeit zu haben, mich freier zu entscheiden, in welche Richtung ich mich weiterentwickle.

Ich habe Lust, genauer hinzusehen und die Mechanismen zu verstehen, die mich zu dem machen, der ich bin.

Privilegien erkennen

Die zweite Blockwoche auf dem Dachsberg begann mit einem Input zum Thema Privilegien. Der Vergleich von rassistischer und geschlechtsspezifischer Diskriminierung war sehr spannend. Der Referent Özcan Karadeniz zeigte in seinen Ausführungen und mit seinem genauen Nachfragen auf, wie gesellschaftliche Strukturen und Normen die Grenze zwischen einem vermeintlich ursprünglichen Wir und dem Anderen ziehen. Besonders eindrücklich bleibt mir in Erinnerung, wie Özcan das Konstruierte dieses Anderen am Beispiel seines Vaters erklärte: Als dieser als Gastarbeiter nach Deutschland kam, wurde er zuerst einmal generell als «Ausländer» wahrgenommen, später verschob sich der Diskurs: Er war nun plötzlich der «Türke». Mit den Entwicklungen nach 9/11 und der aufkommenden Angst vor islamistischem Terrorismus wurde schliesslich seine Religion der relevante Punkt seines Andersseins. Nun war er der «Muslim». Wie sehr solche Zuschreibungen und Markierungen prägen, ist schwer nachzufühlen, wenn man in der Schweiz lebt als weisser Mittelschichtsmann. Die vertiefte Auseinandersetzung in dieser Woche hat meinen Blick dafür geschärft, wie Privilegien sich auch daran zeigen, was einem nicht passiert. Nicht abgewertet, nicht nach seiner Herkunft gefragt zu werden sind keine Erfahrungen, die sich einbrennen. Ich nehme mit, wie wichtig es ist, sich diese Nichterfahrungen bewusst zu machen, um zu verstehen, wie Privilegien und die damit verbundenen Vorteile funktionieren.

Workshop-Pavillon (links) und Unterkunft (rechts) auf dem Dachsberg (Schwarzwald) 

Die Parallele zu geschlechtsspezifischen Diskriminierungen ist augenscheinlich. Egal ob Lohn, Redezeit, Kompetenzvorschuss, Wahrscheinlichkeit sexueller Belästigung – auch wenn ich die diesbezüglichen Privilegien nicht will und sie verurteile: Ich habe sie trotzdem. Es gibt kein Ausserhalb. Aber es gibt fast immer die Möglichkeit zu lernen, sich Dinge bewusst zu machen und selber dagegenzuwirken. Der Austausch in der Gruppe und die Auseinandersetzung mit den eigenen blinden Flecken sind enorm hilfreich, um genauer hinzusehen. Die Offenheit der Lehrgangsgruppe, zu lernen, aber auch der Mut zu hinterfragen und kontrovers zu diskutieren, waren beeindruckend und wertvoll.

Sich geschlechtstypische Muster in der Männer- und Jungenarbeit zu Nutze zu machen, um diese Muster aufzuzeigen und auch aufzubrechen — ein anspruchsvoller Balanceakt.

Praxischeck und neue Ansätze

Natürlich ist es das Ziel eines Lehrgangs zu geschlechterreflektierter Männerarbeit, Stereotypen zu hinterfragen und die altbekannte Einteilung in typisch männliche und weibliche Eigenschaften zu durchbrechen. Eine Herausforderung für alle, die diesen Lehrgang absolvieren, wird es sein, dass diese typischen Eigenschaften in der konkreten Arbeit mit Männern oder Jungen als Anknüpfungspunkte sehr wichtig sind. Männer als Männer anzusprechen ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor, um überhaupt ins Gespräch zu kommen und stereotype Muster thematisieren zu können. Lu Decurtins, der den Block zu Jungenarbeit leitete und über 30 Jahre Praxiserfahrung in der Männer- und Jungenarbeit auf dem Buckel hat, brachte es schön auf den Punkt: «Wenn du ein Streetsoccerturnier organisierst, an dem 30 Jungen teilnehmen und du im Verlauf des Tages eine halbstündige Sequenz über Geschlechterstereotype einbauen kannst, hast du mehr erreicht, als wenn du einen Tagesworkshop für Jungen zum Thema Auseinandersetzung mit männlichen Rollenklischees ausschreibst, sich aber niemand anmeldet.» Lu zeigte in seinem Input verschiedene Ansätze der Jungenarbeit auf. Beindruckend für mich war das genaue Gespür für gruppendynamische Prozesse. Mir gefiel, wie Lu spielerische und körperbetonte Übungen vorstellte und dabei erklärte, was in diesen auf der psychologischen Ebene passiert und wie sie im Zusammenhang stehen mit den Zielen die er verfolgt und den Auseinandersetzungen die er damit anregen will. Sich geschlechtstypische Muster zu Nutze zu machen, um diese Muster aufzuzeigen und auch aufzubrechen — ein anspruchsvoller Balanceakt. Ich bin dankbar für Lus Schlusswort mit dem Hinweis, dass es auf die Haltung ankommt und keine Welt zusammenbricht, wenn man mal etwas ausprobiert, das in die Hose geht.

Eine Männerrunde ohne Mackergehabe und Pokerface. Darauf freue ich mich wieder, wenn es im Februar zur dritten und letzten Woche auf den Dachsberg geht.

Neue Erfahrungen

Neben den fachlichen Inputs ist der Lehrgang für mich auch ein Ort neuer Erfahrungen. Ich habe noch nie eine Woche nur mit Männern verbracht und auch körperbasierte Arbeitsansätze, wie sie Thomas Scheskat im Block zu Aggression, Selbstführung und Selbstbegrenzung vorstellte, waren für mich bislang völlig fremd. Die Altersspanne im Lehrgang reicht von 25-68. Auch das ist für mich ungewöhnlich. Ich habe kaum Freunde, die mehr als 5 Jahre älter oder jünger sind als ich und frage mich seit den vergangenen zwei Wochen wieso. Denn der Austausch über Altersgruppen hinweg ist sehr spannend und natürlich ist es für die eigene Prägung relevant, ob der eigene Vater Jugendarbeiter in Teilzeit (man muss ständig über alles reden) oder schweigsamer Weltkriegsrückkehrer (es wird gar nicht geredet) ist. Diese Diversität führt immer wieder zu guten Diskussionen mit verschiedenen Perspektiven. Beim Blick auf andere Merkmale wie Bildung, Herkunft oder sozioökonomischer Status ist es um die Diversität der Teilnehmer etwas weniger gut bestellt. Umso wichtiger scheint es mir, in den Gesprächen über die Lehrgangsthemen genau hinzusehen und das vermeintlich Normale zu hinterfragen. Was ich aber von allen hier erlebe, ist eine grosse Offenheit. Eine Offenheit, viel Persönliches zu teilen, schnell in die Tiefe zu gehen und dem Gegenüber mit Neugier und Wertschätzung zu begegnen. Eine Männerrunde ohne Mackergehabe und Pokerface. Darauf freue ich mich wieder, wenn es im Februar zur dritten und letzten Woche auf den Dachsberg geht.

Thomas Neumeyer ist seit Februar 2022 Leiter Betrieb und Kommunikation bei männer.ch

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