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«Es gibt eindeutig einen Wandel»
Weissenstein Portrait 2b

Markus Gygli ist das letzte Vorstandsmitglied, das seit der männer.ch-Gründung am 28. Juni 2005 mit dabei ist. An der Mitgliederversammlung vom 28. Juni 2022 tritt er nach exakt 17 Jahren Engagement zurück. Anlass für einen gemeinsamen Blick zurück.

Markus Theunert: Wir haben heute für ein Gespräch über die letzten 17 Jahre von männer.ch und dein Wirken darin abgemacht. Wie geht es dir grad damit?

Markus Gygli: Das hat schon etwas Spezielles. Wir sind Beide seit der Anfangszeit dabei, haben männer.ch im Aufbau begleitet, sind uns auch als Männer und Väter näher gekommen in dieser Zeit. 2016 war ich dein Nachfolger als Präsident, nachdem du in die operative Leitung gewechselt hast.

Und was ist zuvorderst, wenn du jetzt zurückblickst?

Am Anfang haben wir ja viel Irritation ausgelöst. Weshalb braucht es überhaupt eine männliche Perspektive auf Gleichstellung? Weshalb braucht es eine solche Organisation? Dieses Nischenthema haben wir Schritt für Schritt entwickelt. Ich denke schon, es hat im gleichstellungspolitischen Diskurs heute eine gewisse Normalität und Akzeptanz erreicht. Klar, Männeranliegen sind auf der Agenda logischerweise nicht gleichwertig, aber doch anerkannt. Unsere Ursprungsidee, solidarisch zu sein mit Gleichstellungsanliegen von Frauen UND Sprachrohr zu sein für Buben-, Männer und Väteranliegen: Das hat unter dem Strich doch recht gut funktioniert, die Gratwanderung. Wer sich vertieft mit Gleichstellung befasst, nimmt uns wahr und ernst, auch die Legitimation, Buben-, Männer- und Väteranliegen zu vertreten. Wenn man in die Welt der Halbinteressierten oder in politische Kreise geht, sind wir aber natürlich immer noch wenig fassbar.

Mit unserem Triple Advocacy-Konzept hatten wir tatsächlich eine glückliche Hand. Es definiert ja eine programmatische Positionierung, die einerseits variabel, andererseits sehr klar ist: in der Mitte der Aufgaben als anwaltschaftliche Stimme für männliche Anliegen und Verletzlichkeiten, als solidarischer «Ally» für Frauenrechte und Frauenemanzipation und als Mitstreiter in einer grösseren Allianz, die für soziale Gerechtigkeit und eine «equality for all gender» kämpft. Nimmst du Verschiebungen wahr im Lauf der Zeit, was die Positionierung im Dreieck angeht?

Sorgerecht und Unterhaltsrecht waren prominente Themen in den ersten Jahren. Da war die anwaltschaftliche Seite stark vertreten. Spätestens seit #MeToo ist das Solidarische stärker geworden. Partnerschaften mit LQBTQI*-Organisationen und eine Art Mit-Autorenschaft einer übergeordneten Gleichstellungsagenda: Das gibt es erst seit neuerer Zeit. Auch in der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen, in der ich männer.ch seit 2013 vertrete, erlebe ich eindeutig einen Wandel: Dass nicht mehr automatisch zu mir geschaut wird, wenn es um Männer- und Väterperspektiven geht, sondern diese Perspektive auch von anderen in einer gewissen Selbstverständlichkeit eingebracht oder zumindest mitgedacht wird.

Was wir ja schon zugestehen müssen: Unser Denken in Spannungsfeldern und agilen Balance-Modellen ist nicht grad hilfreich, um von aussen die Verortung einer Organisation zu erleichtern. Haben sich die Institutionen einfach an dich oder uns gewöhnt? Oder gibt es einen echten Wandel im Aussen, einen gleichstellungspolitischen Paradigmenwechsel?

 Ich nehme einen echten Paradigmenwechsel wahr. Grad auch in Unternehmen. Dabei kommt es allerdings schnell zu einer Verwischung: Dann wird Frauenförderung nicht ergänzt um geschlechtersensible Ansätze auch für Männer. Sondern es werden beispielsweise aus Mütter- und Väterangeboten gleich Elternangebote. Da geht dann natürlich auch viel verloren.

Das ist das Risiko, dass die Stufe bewusster Auseinandersetzung mit Männlichkeitsthemen einfach übersprungen wird.

In den Institutionen nehme ich eigentlich immer noch keine aktive Auseinandersetzung mit Männer- und Männlichkeitsfragen wahr. Das begrenzt sich schon darauf, Jungen, Männer und Väter als Zielgruppe auf dem Radar zu haben. Immerhin das. Aber alles Weitere geht schon sehr träge vorwärts.

Das deckt sich mit meiner Erfahrung. Männer, Väter und Buben sind mit ihren Bedürftigkeiten nach wie vor weitgehend allein gelassen. Auch eine strukturelle Auseinandersetzung mit Männlichkeitsanforderungen und ihren unerwünschten Nebenwirkungen findet kaum statt.

Ja.

Haben sich die Reaktionen im Lauf der Zeit verändert, wenn du erzählt, dass du dich für männer.ch engagierst?

Schon. Ich erlebe mehr Wertschätzung und weniger Befremden, weniger Stirnrunzeln, weniger Männerrechtler-Verdachtsmomente oder überhaupt weniger Irritation, dass sich ein Mann um Geschlechterfragen kümmert. Interessanter-, aber auch traurigerweise hat unser Engagement vor allem bei Frauen eine gewisse Selbstverständlichkeit gewonnen. Da höre ich schon oft: Das ist wichtig, dass ihr das macht!

Wie erklärst du dir das?

In meiner Bubble gibt es viele gut ausbildete Frauen mit Vereinbarkeitsthemen, die auf der Suche sind und spüren, dass es auf Männerseite Bewegung braucht.

Und umgekehrt, bist du jemals beschimpft worden wegen deines Engagements oder hast berufliche Nachteile erfahren?

Nicht explizit.

Aber implizit…?

Ich kann es dir nicht sagen. Es gab zwei, drei Momente, in denen ich auf höherer hierarchischer Stufe ein Befremden gespürt habe, das nicht karriereförderlich war. Ich hatte den Eindruck, sie stellen sich die Frage: Ist er wirklich genug karriere- und leistungsorientiert? Aber ganz sicher bin nicht.

Welche vorläufige Wirkungsbilanz ziehst du? Eine Organisation wie unsere arbeitet ja eigentlich daran, dass es sie eines Tages gar nicht mehr braucht. Ist männer.ch seit der Gründung dem eigenen Überflüssigwerden näher gekommen? Braucht es männer.ch heute mehr oder weniger als vor 17 Jahren?

Beides. In vielem kommen wir dem Ziel näher, vor allem beim Thema väterlicher Präsenz. Da ist viel gegangen, sowohl im Kopf wie auch strukturell. In vielen Kreisen ist die Erkenntnis angekommen, dass es mehr väterliches Engagement braucht. Ich glaube, in diesem Feld haben wir in den letzten 17 Jahren die grössten Fortschritte gemacht. Da geht schon auch Einiges aufs Konto von männer.ch. Auch im Thema Sexismus ist das Verständnis von Männern gewachsen, wie man mit Frauen (nicht) umgeht, Das hat auch viel Schub bekommen in den letzten Jahren – aber weniger wegen uns.

Was bleibt zäh?

Die Selbstreflexion. Das Verständnis, wer bin ich als Mann? Was heisst es, in der Balance aller (auch widersprüchlichen) Ansprüche Mann zu sein? Dass das Thema ein Thema ist: Da haben wir glaub schon dazu beigetragen. Es bleibt aber noch weit weg von einem breiten Diskurs und möglichen Antworten. Auch eine Bewegungsdynamik sehe ich keine. Es sind einzelne Felder, die aktiv sind, eine Art Flickenteppich, Farbtupfer auf einer insgesamt immer noch recht grauen Karte. Auch auf einer strategischen Ebene sehe ich keinen breiten Diskurs zur grundsätzlichen Frage: Welche Bedeutung hat das Thema Männlichkeit(en) in Bezug auf Klimawandel, Demokratiesicherung, Friedensförderung. Das ist noch weit entfernt. Bestenfalls ist die individuelle Bedeutung für den einzelnen Mann ein Thema. Gleichzeitig gibt es so viele gesellschaftspolitische Veränderungen, dass ich schon Sorgen habe.

Sprichst du damit Erstarken rechtspopulistischer und demokratiegefährdender Kreise an?

Ja. Mit Klima, Migration, Krieg und allgemein einer immer schwerer vorhersehbaren wirtschaftlichen Entwicklung haben wir sehr viele Themen, die Unsicherheit streuen. In dieser Situation nehme ich ein verstärktes Bedürfnis nach Figuren wahr, die anders mit Hierarchie und Macht umgehen, «männlicher», «patriarchaler».

Was hältst du von der These, dass sich antifeministische Denkfiguren immer weiter in die Mitte der Gesellschaft fressen? Eine deutsche Studie sieht Empfänglichkeit für antifeministische Denkfiguren bei 40 Prozent der deutschen Männer. Es ist zu befürchten, dass eine Befragung in der Schweiz zu ähnlichen Zahlen käme.

Ich finde das schwierig zu erfassen. Ich kann letztlich nur wiedergeben, was ich lese. Aber klar, es gibt offensichtlich vermögende Kreise, die Machtstrukturen und Gesellschaftsverständnisse verändern wollen und dabei Männer und ihre bedrohten Männlichkeiten benutzen und Gender als Feindbild pflegen. Das finde ich schon zum Fürchten.

Lass uns noch einen Moment auf die Entwicklung von männer.ch als Organisation schauen. Das war ja ein Schwerpunkt deines Wirkens.

In der Anfangszeit haben wir viel investiert, Veranstaltungen organisiert, Dialogräume eröffnet, um Männer in Bewegung zu bringen, das Sprachrohr einer Bewegung zu sein. Dann haben wir gemerkt, dass der Bedarf viel eher im politischen und öffentlichen Diskurs vorhanden ist.

Stimmt, besonders in den ersten Jahren waren wir als Ansprechpartner für Männerfragen sehr begehrt. Wir hatten da auch eine Art Monopol.

Mit der Zeit ist das Fachliche wichtiger geworden, unser Wirken als Fachstelle und Fachverband. Wir haben uns immer wieder etwas neu erfunden. Es sind auch immer wieder viele Leute dazugekommen, die sich mit viel Enthusiasmus, Engagement und Herz eingebracht haben – und dann auch wieder herausgegangen sind. Wir Beide und unser Westschweizer Koordinator Gilles Crettenand haben die meiste Kontinuität reingebracht.

Wo haben wir uns am stärksten entwickelt?

Eindeutig fachlich: Grundlagenwissen, Projekte, direkte Wirkungen. In fachlichen Fragen nehme ich uns am wirksamsten wahr.

Du arbeitest als Organisationsberater und -entwickler. Wenn du mit dieser Brille auf männer.ch schaust: Würdest du sagen, wir sind eine gesunde Organisation?

Wir sind eine typische Pionierorganisation, die sich dauernd wieder neu erfinden muss und dauernd etwas am Limit läuft. Ich habe das Gefühl, wir waren und sind in einem gesunden Mass risikobereit – auch wenn wir ein paar Mal auf die Nase gefallen sind. Immerhin haben wir uns immer wieder hochgerappelt. Wir haben auch viel gelernt, was es heisst, Pionierorganisation zu sein. Jetzt können wir auch erste Früchte ernten. In gewissen Kreisen gibt es ein Grundvertrauen in die Relevanz der Thematik und die Professionalität unserer Arbeit. Das hat nur funktionieren können, weil du als Schlüsselfigur soviel Energie reingegeben hast, die Bereitschaft hattest, das zu treiben und zu tragen. Ohne dich hätte es die Organisation auseinander geworfen.

Glaubst du?

Ja, das ging nur, weil du ein Pionier bist. Und weil du ein feines Gespür hast für Machtstrukturen, Rollen, dialogische Prozesse.

(Lacht) Zumindest einen richtigen Scherbenhaufen haben wir nie angerichtet.

Du warst auch immer bereit, deine Funktion und deine Position auch wieder in Frage zu stellen. Das ist ein wichtiger Beitrag, damit wir für ein neues Männerbild glaubwürdig sind.

Schön, dass du das sagst. Der Umgang untereinander, die männer.ch-Kultur ist vielleicht das, worauf ich am Stolzesten bin.

Es ist eben wirklich noch spannend. Wir arbeiten ja in traditionellen Vereinsstrukturen, haben aber kulturell ein hohes Verständnis entwickelt für dialogische Prozesse, für die Integration von Organisationsinteressen und Menschen, für funktionierende, beziehungs- und sachorientierte Zusammenarbeit. männer.ch war und ist für viele auch ein Raum zum Wachsen.

Was mich immer wieder erstaunt: Wie attraktiv männer.ch ist als Arbeitgeber. Wir haben eigentlich auf jede ausgeschriebene Stelle top Bewerbungen erhalten – trotz anspruchsvollen Arbeitsbedingungen.

Ich teile den Eindruck, aber wohl nicht alle im Vorstand. Ich finde schon, wir sind ein fairer Arbeitgeber, auch wenn es natürlich viele Unsicherheiten gab und gibt. Faire Löhne, interessante Aufträge, individuelle Förderung, echtes Interesse am Menschen – in einer Führungskultur, in der man wachsen und sich wohlfühlen kann. Das ist auch nicht selbstverständlich.

Gibt es ein Erlebnis, das die Erfahrungen aus 17 Jahren Engagement bei männer.ch auf einen Punkt bringt?

Den Umgang, wenn wir wieder in finanziellen Nöten waren und als Gemeinschaft einen gemeinsamen Weg finden mussten. Das Ringen bis zum «OK, so machen wir es». Das ist die Innensicht. Im Aussen ist es die erste männerpolitische Konferenz 2012 in Berlin, die auf unsere Initiative zurückging. Oder der MenCare-Kickoff mit dem schwedischen Botschafter und der Leiterin des eidg. Büro für Gleichstellung in Bern 2016. Aber auch die Aufträge aus den Unternehmen für die Vatercrashkurse oder ein ausverkaufter Lehrgang für künftige Fachmänner. Das sind so Highlights.

Die Vorstandsretraite in Luxemburg 2016 ist für mich ein starkes Bild, das Arbeiten in dieser Industrielandschaft mit den ausrangierten Hochöfen. Berlin war für mich noch eher ein Vordrängeln auf eine Bühne, auf die man eigentlich gar nicht gehört. In Luxemburg haben wir diesen Raum schon sehr viel selbstverständlicher eingenommen.

Ich möchte auch noch den Moment würdigen, als du dich anstellen liessest und wir in neuen Rollen die Zusammenarbeit neu definieren mussten. Das war auch 2016. Ich wurde dein Nachfolger als Präsident. Ich habe dafür ja mein Erwerbspensum auch auf 60% reduziert. Das war für Beide nochmals ein anderes Commitment für die Sache und für männer.ch als Organisation.

Ich bin dir echt dankbar, wie du deine Präsidiumsrolle wahrgenommen hast. Du hast damals sinngemäss gesagt, dass wir zwar einen guten Draht zueinander haben, du aber trotzdem genug innere Unabhängigkeit hast, um mich führen zu können. Dir es super gelungen, auf angenehme, wirksamkeitsfördernde, motivierende Art, Leitplanken zu setzen und in der Umsetzung Räume zu geben.

Gleichzeitig bist du auch sehr professionell im «Führen von Vorgesetzten». Das meine ich nicht ironisch. Du weisst, was man als Vereinspräsident braucht (und was nicht unbedingt). Das hat es mir auch einfach gemacht.

Danke für die Wertschätzung. Was wirst du vermissen?

Dass es immer wieder Raum gab, die persönliche Entwicklung als Vater, Mann und Mensch. zu besprechen, spiegeln zu lassen. Ich bin immer wieder inspiriert worden von anderen Männern in der Organisation. Meistens beflügelnd. Manchmal schmerzhaft in Frage gestellt, nicht konfrontativ, sondern über Erzählungen und den Austausch von Erfahrungen. Das hat auch etwas Qualitäten einer Männergruppe.

Ich bedaure deinen Rücktritt ja sehr. Es war ein langer gemeinsamer Weg. Und eine schöne Art, Weggefährte zu sein, gemeinsam die Organisation vorwärtszubringen – immer in Sichtweite, manchmal auch ganz nah, auf jeden Fall immer verbunden.

Das werde ich auch vermissen. Und das Netzwerk zu interessanten Menschen im ganzen Gleichstellungsbereich. Es ist auch ein bisschen ein Identitätsverlust. Ich habe mich auch über diese Funktion identifiziert, wer ich bin, auch nach aussen – im Privaten wie im Beruflichen habe ich das Gleichstellungsthema eingebracht mit meinem Engagement für männer.ch. Zusammenarbeit mit dir.

Was erhoffst du dir, was frei wird nach dem Rücktritt?

Energie für das Thema Transformation, die Begleitung von Menschen und die weitere Entwicklung meiner Selbständigkeit als Berater. Darauf freue ich mich sehr. Da fühle ich mich am selbstwirksamsten. Ich freue mich, dort noch mehr in die Tiefe gehen zu können. Und ich freue mich auf ein paar zusätzliche freie Abende.

Markus Gygli ist Vater einer 16jährigen Tochter, wohnt in Bern und Borisried. Er war von 2005 bis 2022 Vorstandmitglied von männer.ch (2016-2020 als Präsident und 2020-2022 als Vizepräsident) und vertritt männer.ch seit 2013 in der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen. Markus Gybli arbeitet zu 60% als Organisationsberater bei der SBB und ist daneben teilselbständig als Berater und Coach für Führungskräfte/-teams. Er bietet auch Retreats zur persönlichen Entwicklung an. Informationen: www.markusgygli.ch

Markus Theunert war von 2005 bis 2016 Gründungspräsident von männer.ch und leitet die Organisation seit 2016 operativ.

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