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«Will man aktuelle Konflikte angehen, müssen wir auch über Männlichkeit sprechen.»

 

Matthias Luterbach (links) spricht an der Vernissage vom 22. Januar 2021 im Stadthaus Zürich über den Orientierungsrahmen.

Am 22. Januar wurde unser fachlicher Orientierungsrahmen publiziert. Dieser hat zum Ziel, für das Feld der (geschlechterreflektierten) Männer-, Jungen- und Väterarbeit ein tragfähiges geschlechtertheoretisches Fundament zu formulieren. Einer der zwei Co-Autoren ist Matthias Luterbach, Assistent und Doktorand im Fachbereich Gender Studies der Universität Basel. Valentin Kilchmann hat sich mit ihm über die Neupublikation unterhalten.

Matthias Luterbach, Uni Basel

Wie ist es zu deiner Mitwirkung am Buch gekommen?

Im Rahmen einer früheren Anstellung am Schweizerischen Institut für Männer und Geschlechterfragen (SIMG) diskutierte ich mit dem damaligen SIMG-Leiter Andreas Borter und auch mit Markus Theunert viel über unser jeweiliges Verständnis von Männlichkeit und geschlechterpolitischen Perspektiven. Ich bin der Überzeugung, dass eine differenzierte und fundiert-kritische Auseinandersetzung mit Geschlechtervorstellungen und –normen die Selbstbestimmung und vielfältige Lebensweisen von Menschen fördert. Zudem sind meines Erachtens zahlreiche gesellschaftlichen Konflikte – von konkreten Gleichstellungsfragen über Klimafragen, Gewalt, Militarismus usw. – eine Konsequenz bestimmter Männlichkeitsnormen. Will man diese angehen, müssen wir auch über Männlichkeit sprechen. Markus Theunert hat schliesslich vorgeschlagen, unsere Diskussion im Rahmen der Erarbeitung des Buches fortzuführen.

Wie passen Geschlechterforschung und Männerarbeit zusammen?

Sowohl Geschlechterforschung als Fach als auch die Männerarbeit fördern eine kritische Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Männlichkeit und Geschlecht. Dabei wird deutlich, dass diese immense Bedeutung noch immer häufig unterschätzt wird. Darauf hinzuweisen ist für mich eine wichtige wissenschaftliche und politische Praxis.

Ausgangspunkt meines Engagements war meine Überzeugung, dass eine differenzierte und fundiert kritische Auseinandersetzung mit Geschlechtervorstellungen und –normen Selbstbestimmung und vielfältige Lebensweisen fördert.

Im Abschlusskapitel hast du und Markus Theunert eure Co-Autorenschaft reflektiert, die ihr beide als gewinnbringend und produktiv, wenn auch nicht immer reibungslos, charakterisiert habt. Wie blickst du nun mit etwas Distanz auf die Zusammenarbeit zurück?

Es war tatsächlich eine zähe Arbeit, weil wir unterschiedliche Perspektiven und Herangehensweisen zusammenbringen mussten. Gleichzeitig treibt sowohl Markus wie mich ein hoher Gestaltungs- und Veränderungswille und der Wunsch nach progressiven Entwicklungen an. Darin steckt viel Energie, das war intensiv und inspirierend. Wie wir diese Energie auch in einem selbstkritischen Sinne in diesem Buchprojekt umsetzen, war für mich eine wertvolle Erfahrung. Wo es uns gelang, sich gegenseitig in dieser suchenden Bewegung zu begegnen und auch da einander zuzuhören, wo wir uns erstmal nicht verstanden haben, das war für mich sehr anregend und ich habe viel daraus gelernt.

Hätte etwas anders laufen sollen?

Was ich mir anders gewünscht hätte, wäre wohl eine grössere Freiheit gegenüber beengenden Sachzwanglogiken. Ich bin der festen Überzeugung, dass differenzierende und komplexe Perspektiven momentan gerade in der Geschlechterdebatte wichtig sind, um einen Schritt weiter zu kommen. An dieser Stelle würde ich mir eine grössere Offenheit gegenüber einer solchen Herangehensweise wünschen. Sicher muss man weiter auf niederschwellige Formen der Vermittlung insistieren, denn tatsächlich kann man in der Wissenschaft manchmal ganz schön borniert werden bezüglich der eigenen Sprache und Begriffe. Aber ich bin sicher, dass man in der Zusammenarbeit komplexe und differenzierte Sachverhalte auch gut vermitteln kann. Mir scheint dies eine wichtige Grundlage für eine weitere Professionalisierung.

Welchen Gewinn bietet für dich der Orientierungsrahmen letzten Endes?

Was wir das Herzstück nennen, soll Orientierung geben: Einerseits wollen wir den unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Anforderungen und Vorstellungen von Männern emphatisch und zugewandt Rechnung tragen. Gleichzeitig auch eine eigene geschlechterpolitische Haltung entwickeln und diese in die konkrete Männerarbeit einbringen. Aktuell sehen wir eine starke Tendenz zu gesellschaftlichen Spaltungen, in der Einige progressive Veränderungen wieder rückgängig machen wollen, während Andere – verständlicherweise – endlich gleichstellungspolitische Forderungen umgesetzt sehen wollen. Gerade jetzt ist es sehr wichtig, diese entstehenden Spannungen nicht nur wahrzunehmen, sondern mit einer eigenen Haltung zu agieren. Gleichzeitig ist es wichtig zu verstehen, woher die unterschiedlichen Positionen kommen. Die fallen ja nicht vom Himmel, sondern sind sehr grundlegend in der bürgerlich-patriarchalen Gesellschaftsordnung aufgehoben, die ja noch nicht überwunden ist. Zusätzlich verschärft der Neoliberalismus diese Spannungen: Viele Männer erleben gerade stärker werdende Ungleichheiten und ein Stillstand ihrer eigenen Entwicklungsperspektive. Hier kann der Orientierungsrahmen einen Gewinn bringen, indem er eben Orientierung bietet.

Auch wenn Geschlecht historisch gemacht und veränderbar ist, ist es nicht willkürlich oder beliebig. Sondern es ist eine gesellschaftliche Realität, mit der wir alle täglich umgehen müssen.

Wie zum Beispiel?

Ich habe im Buch zwei Werkzeuge für einen geschlechterreflektierten Umgang vorgeschlagen: Einerseits die „Entselbstverständlichung“. Damit ist eine vertiefte Einsicht möglich, wie sich Geschlecht historisch und gesellschaftlich verändert. Das deutet auch auf die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Normen und Lebensweisen hin. Das zweite Werkzeug ist der Blick auf die konkreten vorherrschenden „Anforderungen an Männlichkeit“. Denn auch wenn Geschlecht historisch gemacht und veränderbar ist, ist es nicht willkürlich oder beliebig. Sondern es ist eine gesellschaftliche Realität, mit der wir alle täglich umgehen müssen.

Wo könnte die Akademie vom praktischen Wissen aus der Männerarbeit profitieren?

Mir scheint, die beiden profitieren aktuell sehr voneinander. In der Schweiz hatten wir konkret mit dem Interdisziplinären Arbeitskreises für Männer- und Geschlechterforschung (IAMUG) einen regelmässigen Austausch, der zuletzt ja beim SIMG angegliedert war. Und auch bei der Tagung «Zeitdiagnose Männlichkeiten Schweiz» im Jahr 2018 bezogen wir als veranstaltende Wissenschaftsgruppe «Tranformation von Männlichkeiten (TransforMen)» explizit die Praxis mit ein. Allgemein profitiert die Geschlechter- und Männlichkeitenforschung schon ganz lange von praktischem Wissen. Daraus entstehen bestimmte Fragestellungen und Forschungsperspektiven. Gut sichtbar wird das beispielsweise in der ganzen Debattenvielfalt um sorgende Männer und caring masculinities. Diese Debatten werden aktuell sowohl in der Wissenschaft wie auch in der Männerarbeit zahlreich geführt. So haben sich Forschungs- und Tätigkeitsgebiete aus meiner Perspektive wechselseitig vorangetrieben und unterstützt.

Matthias Luterbach (*1986) ist Assistent und Doktorand im Fachbereich Gender Studies der Universität Basel (www.genderstudies.philhist.unibas.ch). Sein Arbeitsschwerpunkte sind Familien- und Geschlechterverhältnisse in der Schweiz im Spannungsfeld von Persistenz und Wandel mit einem besonderen Fokus auf Männlichkeit(en). Matthias Luterbach studierte Geschlechterforschung und Soziologie an der Universität Basel. Zwischen 2015 und 2018 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Schweizerischen Institut für Männer- und Geschlechterfragen, der Fachstelle des Dachverbands männer.ch.

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